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Gott, hilf mir!

George Walsh

 

 

Das Wesen der Religion

 

Eine Religion ist ein System von Glaubenssätzen und Praktiken, die auf zwei fundamentalen Annahmen beruhen:

 

(1)  dass die Ereignisse in der Welt von einer übernatürlichen Macht abhängig sind, und

(2)  dass die menschlichen Bedürfnisse befriedigt werden können, indem die Menschen in Beziehung zu einer solchen übernatürlichen Macht treten.

 

Der fundamentale Glaube ist deshalb in an allen Religionen, dass eine übernatürliche Macht existiert, die fähig ist, natürliche Ereignisse zu kontrollieren, und die fundamentale Praxis in allen Religionen besteht darin, zu versuchen, diese Macht zu beeinflussen.

 

Diese Macht wird deshalb „übernatürlich“ genannt, weil sie angeblich durch andere Mittel als jene der von den Sinneserfahrungen und der Vernunft abgeleiteten, erkannt und beeinflusst werden kann. Innerhalb dieses allgemeinen Rahmens, jedoch gibt es zwei sich stark unterscheidende Arten übernatürliche Macht zu begreifen.

 

*

 

(A) Ein Weg sieht die Macht als eine unpersönliche Energie, als eine Art übernatürliche Elektrizität an, die vom Menschen gemäss festen Gesetzen manipuliert und kontrolliert werden kann. Diese Manipulation wird Magie genannt, welche die Kunst ist, eine übernatürlichen Macht zu zwingen, seinen Befehlen zu gehorchen. Diese Methoden der Manipulation übernatürlicher Mächte werden irgendwie von dem Magier gelernt, und dann gemäss spezifischer Formeln, in Form abgesungener Beschwörungen oder heiliger Rituale, angewandt. Wenn diese Beschwörungen und Rituale korrekt ausgeführt werden, werden die gewünschten Ergebnisse unvermeidlich erreicht. Falls die Ergebnisse nicht erreicht wurden, dann war etwas mit der Ausführung falsch. Sir Francis Bacon sagte, dass man der Natur gehorchen müsse, um ihr zu befehligen zu können. Der Magier glaubt, dass man dem Übernatürlichen gehorchen muss, um ihm zu befehligen zu können. Daher teilt die Magie mit der Wissenschaft die Charakteristik, nach unveränderlichen Gesetzen zu suchen; sie weicht von der Wissenschaft hinsichtlich des Gegenstandes dieser Gesetzte ab – die übernatürliche Welt gegenüber der natürlichen Welt.

 

Außerdem, wie weiter unten beschrieben wird, ist die Basis für diese magischen Gesetze nichts anderes als bestimmte, willkürliche Glaubensüberzeugungen, die von Generation zu Generation weitergereicht werden, und nicht auf Beobachtung, Experiment und Vernunft beruhen, die die Grundlage der wissenschaftlichen Gesetze sind. Diese Pseudotechnologie namens Magie, ist dann der erste Weg, mit dem der Mensch sich auf die übernatürliche Welt beziehen kann.

 

(B) Der zweite Weg ist die persönliche Ich-Du-Beziehung. Hier wird die übernatürliche Macht als geisterhafte Person begriffen – Götter, Geister, Engel, Dämonen. Das menschliche Verhältnis zu diesen ist, intentional, ein Interpersonales.

 

Zum Beispiel treten Menschen oft über das Gebet in interpersonale Beziehung zu Göttern. Allgemeiner gesehen, bittet (bettelt) er sie an, schmeichelt ihnen, liebt sie, hasst sie, ist ihnen treu oder untreu. Seine Haltung ist das eines Bittstellers, während die des Magiers gegenüber dem Übernatürlichen die eines Ingenieurs ist.

 

Die geisterhaften Personen der übernatürlichen Welt wiederum, verhalten sich zum Menschen auf eine persönliche Art. Die Götter lieben ihn, hassen ihn, bevorzugen ihn, belohnen ihn, bestrafen ihn, u.s.f. Jegliches Modell zwischenmenschlicher Beziehungen kann in dieser Art von Religion beinhaltet werden: Die Götter können zum Beispiel als Freunde oder als Feinde betrachtet werden. Oder es kann ein politisches Modell benutzt werden: Gott ist ein König und die Menschen sind seine Bürger. Oder ein Familienmodell: Gott ist der himmlische Vater und die Menschen seine Kinder.

 

Die besten Beispiele für eine stark personale Religion sind Judentum, Christenheit und Islam. Der Gott dieser Religionen wird als Person begriffen. Er denkt, wünscht, beobachtet und bewertet; erlässt Vorschriften, Belohnungen und Bestrafungen; hat Gnade; sucht sein verlorenes Schaf; und so weiter.

 

*

 

Die impersonalen und personalen Konzepte der Religion können als zwei Enden eines Spektrums gedacht werden.

 

(a)   An einem Ende ist reine Magie, nichts als unpersönliche Macht, beherrscht, angesammelt, gerichtet, umgeleitet, und zerstreut durch den Magier. An diesem Ende ist der Magier in totaler Kontrolle, ein Ingenieur des Übernatürlichen. Ein Beispiel würde ein Medizinmann sein, der eine Person heilt oder sie verflucht.

 

(b)  An dem anderen Ende des Spektrums ist eine Religion, in der der Mensch keine Kontrolle hat, sondern ein personaler und absolut allmächtiger (omnipotenter) Gott verfügt über alle Dinge von Augenblick zu Augenblick. Hierfür ist der Islam das perfekte Beispiel. [...] Das Wort „Islam“ bedeutet unterwerfen, und die Idee dahinter ist die gesamte Demütigung/Unterwerfung des Individuums vor Gottes Wille.

 

Zwischen diesen beiden Extremen, aber näher dem magischen Ende des Spektrums, kommt der Alt-Griechische Polytheismus. Für die Griechen waren die Götter Personen, aber Personen in beständigem Konflikt miteinander, und begrenzt in ihrer Handlungsfreiheit durch die Menge göttlicher Macht, die sie für eine bestimmte Angelegenheit aufbringen konnten.

 

Näher an der personalen Religion ist der Katholizismus, wo Gott allmächtig ist, aber seinen Priestern die Macht erteilt, Riten auszuführen die mehr oder weniger automatisch „funktionieren,“ wenn man sie korrekt und ernsthaft ausführt.

 

[Beispiel aus „Der Exorzist“: Das besessene Mädchen schwebt in der Luft, während der Priester wiederholt, „Durch die Macht von Christus befehle ich dir...“ was dazu führt, dass das Bett schließlich auf den Boden zurücksinkt.]

 

Das ist ein Beispiel für die Mischung des Personalen und des Impersonalen innerhalb einer Religion, von gottkontrollierter und menschenkontrollierter Macht.

 

[Beeindruckender war der Fall mit dem traditionalistischen Erzbischof Marcel-Francois Lefebvre. Lefebvre ordinierte ohne die Erlaubnis des Papstes, eine Anzahl von Priestern, die seine eigenen traditionalistischen Ansichten teilten. Der Ritus wurde korrekt ausgeführt und die Ordinationen waren deshalb gültig. Jene waren wahre Priester mit übernatürlichen Kräften. Aber die Ausübung dieser priesterlichen Mächte würde moralisch falsch sein, und sogar frevelhaft, da sie entgegen dem Willen des Papstes ausgeübt wurden. Hier haben wir eine Religion, in der moralische und magische Erwägungen ungefähr gleichwertig sind.]

 

*

 

Die Institutionen primitiver Religion

 

Religion, wie oben definiert, ist universal, nicht in dem Sinne, dass alle Menschen religiös sind, sondern in dem Sinne, dass Religion in allen der Geschichte bekannten Gesellschaften vorhanden war, und eine (merklich) wahrnehmbare Macht über sie ausgeübt hat.

 

Um jedoch die Anfänge menschlicher Religionen zu erforschen, muss man ihre Präsenz in, und ihre Macht über prähistorische Gesellschaften untersuchen. [...] Unter den wirksamsten Schlüsseln zur Interpretation prähistorischer Gesellschaften, haben Anthropologen entschieden, sind die Praktiken und Glaubensüberzeugungen (die „Institutionen“) der wenigen überlebenden Stämme, deren Lebensweise jener der prähistorischen Kulturen ähnelt.

 

Dieser Argumentation folgend, kann man ungefähr zehn religiöse Institutionen isolieren, die in zeitgenössischen primitiven Kulturen präsent sind, und wahrscheinlich deshalb des Menschen frühste Formen religiösen Glaubens und religiöser Praxis waren. Hier ist nur Raum, um die Institutionen zu erwähnen und eine kurze Charakterisierung ihrer essentiellen Merkmale zu geben.

 

1. Übernatürliche Kräfte

 

Unter der fundamentalsten religiösen Glaubensüberzeugungen ist die Vorstellung einer mächtigen übernatürlichen Energie, die die Natur durchdringt, anscheinend aber in unterschiedlichen Dichten (Konzentrationen). Diese spezielle Gewalt wird für allgemein verantwortlich gemacht, für was auch immer nicht durch alltägliche Kräfte, wie z.B. Feuer und Wind, erklärt werden kann. Wenn man auf diese spezielle Macht stößt, verursacht das Ehrfurcht und Angst. Nichtsdestotrotz, wie oben erwähnt wird, ist diese Macht/Gewalt festen Gesetzen unterworfen, die dem Menschen zumindest teilweise bekannt sind.

 

2. Magie

 

Durch seinen Glauben an gesetzhafte übernatürliche Mächte, übt der primitive Mensch Magie aus, eine Art von Technik, die dem übernatürlichen Bereich gewidmet ist. Gemäss Sir James Frazer, Autor von „Der goldene Ast,“ soll ein großer Teil der Magie-Konstruktion gemäss einem Gesetz der Sympathie funktionieren. Diesem Gesetz zufolge sind Objekte fähig, durch mehrere Arten von „Sympathie“ von Weitem aufeinander einzuwirken, und daher kann der Magier aus der Distanz Effekte erzeugen, indem er die Sympathie verwendet, die zwischen den Objekten existiert. 

Eine einfache Version würde der Versuch sein, Regen durch das Schlagen von Trommeln zu produzieren: der rumpelnde Ton der Trommeln ähnelt, und hat deshalb eine geheime Sympathie mit dem rumpelnden Ton des Donners.

 

3. Geister

 

Der primitive Mensch glaubt, dass sein Bewusstsein nicht mit seinem Körper identisch ist. Wenn er mit Erfahrungen, wie z.B. Träumen konfrontiert wird, kann er sich deshalb vorstellen, dass sein Bewusstsein seinen Körper verlässt und durch die Welt geistert.

 

Als nächstens nimmt er an, dass, wenn Geister sich von ihren Körpern vorläufig entfernen können, sie das auch für immer tun können. Daher gehören, in der Welt des Primitiven, zu den Geistern auch die „Seelen“ der Toten. Es kann auch Geister geben, die nie Körper gehabt haben und Geister, die Bäume, Bäche und Felsen bewohnen.

 

4. Praxis der Anbetung und Verehrung

 

Ein Glaube an Geister ruft Anbetung und Verehrung hervor, so wie ein Glaube an übernatürliche Mächte die Praxis der Magie hervorruft.

 

Anbetung bedeutet Huldigung oder Ehrung eines personalen Geistes, der in einer gewissen Hinsicht überlegen/höhergestellt ist. Gelegentlich huldigt ein Person einem Geist, weil der Geist würdiger als der Verehrer (Götzendiener) ist, aber gelegentlich ist der Geist nur mächtiger. Daher muss es nichts Falsches sein, mit Furcht und Abscheu einen Dämon „anzubeten,“ nur um ihn zu vertreiben.

 

Verehrung (Ehrfurcht) ist eine ehrerbietige Hochachtung für eine heilige personale Macht. Verehrung mächtiger Tiere wie z.B. Löwen, ist unter primitiven Völker verbreitet, die dadurch versuchen, etwas von der Stärke dieser Tiere zu erwerben.

 

5. Tabus

 

Ein Tabu ist ein Verbot des Kontakts mit einer Person oder einem Ding, und scheint eine Furcht vor übernatürlicher Energie darzustellen.

 

Es fällt nicht notwendigerweise mit einem moralischen Verbot zusammen, das versucht, einen Wert zu erhalten, und in der Tat kann ein Tabu der Erfüllung einer gewöhnlichen moralischen Verfügung im Weg stehen. 

 

Eine Person die ein Tabu gebrochen hat, muss geächtet werden, damit sie nicht ganze Gemeinde ansteckt. Aber der Verbannung (Ächtung) kann durch einen Reinigungsritus, wie z.B. ein rituelles Bad, Fasten, das Abschneiden der Haare, seinen Körper mit weißer Farbe abdecken, oder durch ein Feuer laufen, vermieden werden.

 

6. Opfer

 

Religiöse Opferung ist das Aufgeben eines geschätzten Gegenstands durch Beschlagnahme (Enteignung) oder Zerstörung, um ihn aus dem menschlichen Besitz in den Besitz einer übernatürlichen Macht zu übergeben.

 

Opferung kann reichen vom Ausgießen einer Tasse Wein auf den Boden, bis hin zur Tötung seiner eigenen Kinder.

 

Das Motiv für das Opfer kann sein, das Geschehen von etwas Schlechtem zu verhindern: eine Jungfrau kann in einen Vulkan geworfen werden, um ihn vom Ausbrechen abzuhalten. Oder das Motiv für eine Opferung kann sein, etwas positives, gutes zu bewirken. Zum Beispiel kann eine Person geopfert werden, um eine gute Ernte sicherzustellen.

 

7. Der Totenkult

 

Alle primitiven Völker glauben, dass ein Teil der menschlichen Persönlichkeit den Tod überlebt, und dieser Glaube wird begleitet von einer Mischung von Wünschen und Ängsten, sowie von einer breiten Vielfalt von dazugehörigen Praktiken.

 

Primitive Glaubensüberzeugungen über das Schicksal des menschlichen Geistes nach dem Tode fallen in drei Kategorien:

 

(1)  In der ersten fährt der Geist in einen Himmel, wo irdische Freuden und Nöte fortgesetzt werden.

(2)  In der zweiten, wird der Geist wiedergeboren – gewöhnlich als ein anderer Mensch.

(3)  In der dritten, lebt ein schwaches Abbild der menschlichen Persönlichkeit in einem schattenhaften Reich.

 

In keiner dieser Versionen spielt jedoch die Vorstellung von Lohn und Bestrafung eine Rolle. In der primitiven Version des Himmels, erhalten zum Beispiel, sowohl die guten als auch die bösen Krieger Einlass in das Paradies. In der primitiven Version der Wiedergeburt wird eine Person in den gleichen Stand wiedergeboren, dem sie in diesem Leben angehört hat. 

 

8. Totemismus

 

Der Totemismus ist ein System von Glaubensüberzeugungen und Praktiken, basierend auf der Annahme, dass es eine spezielle Beziehung zwischen einer bestimmten Gruppe von Menschen und einem Typ von Tier, Pflanze, oder, gelegentlich, leblosen Gegenstand, gibt.

 

Diese spezielle Beziehung macht eine Gruppe von Menschen zu einem Clan (einer Sippe), unter deren Mitgliedern sexuelle Beziehungen dem Inzest gleichkommen. Unter den Clan-Mitgliedern ist auch das Essen des Totems tabu – außer zu periodischen Gelegenheiten, wenn die ganze Sippe ein heiliges, vereinigendes Essen des Totems veranstalten kann.

 

9. Rituale

 

Ein „Ritual“ ist ein System programmierter Worte, körperlicher Handlungen, und Gesten/Gebärden, ob zum Zwecke impersonaler Magie oder personaler Anbetung und Hingebung.

 

Durchgangsrituale – Geburtsrituale, Initiierungsrituale (ins Erwachsenenalter), Ehe, und Tod – befinden sich unter den wichtigsten Ritualen. Tatsächlich ist es lehrreich zu sehen, dass selbst wenn die Stammesform der Gesellschaft von der urbanen Gesellschaft zerstört und ersetzt wird, ein Hunger nach Stammesritualen generationenlang zu verbleiben scheint.

 

10. Mythos

 

In seiner ursprünglichen Bedeutung könnte ein Mythos wahr oder unwahr sein. Es ist nicht von Bedeutung.

 

Der Mythos war einfach eine Geschichte, die etwas erklärt und gerechtfertigt hat – ein Ritual, eine Gewohnheit, den Ursprung eines Stammes, den Ursprung des Universums – ohne Rücksicht auf die Wahrheit.

 

Aus den Mythen sind große mündliche Traditionen entsprungen; aus den mündlichen Traditionen sind Heilige Schriften hervorgegangen; und aus dem Versuch Heilige Schriften zu systematisieren und ihnen den Anschein der Rationalität zu verleihen, ist Theologie entstanden.

 

*

 

Der Ursprung von Religionen

 

Nun könnte man fragen, „Wie schaffen es Leute, die an solche religiösen Institutionen glauben, erfolgreich in der Welt zu funktionieren? Insbesondere, wie haben primitive Völker es geschafft, erfolgreich in der Welt zu funktionieren, als das Leben so viel gefährdeter war, und als Magie noch richtig ernst genommen wurde?“

 

Zunächst ist klar, dass jeder der gänzlich aufgrund von Religion operierte, nicht hätte überleben können.

 

Dennoch haben primitive Menschen überlebt, sonst würden wir nicht hier sein. So könnte man also schlussfolgern, dass der primitive Mensch, nach üblichen Methoden der Erkenntnis, enorm lange überlebt hat. Wenn er ab und zu zur Magie umgeschaltet hat, oder sogar einen Großteil der Zeit, muss er sehr gut gewusst haben, wann man wieder umschalten muss.

 

Es muss irgendwelche Signale in seinem Leben gegeben haben, die ihm sagten, wann es Zeit war umzuschalten.

 

Unter der momentanen Annahme der Existenz eines „Aus-Schalters“ für Religion, ist das Überleben primitiver Gesellschaften nicht mehr so geheimnisvoll.

 

Erstens, hat der primitive Mensch scharfe Sinne, und in vielerlei Hinsicht ist er ein weit besserer Beobachter der Natur, als dass das der zivilisierte Mensch ist. Er kann erkennen, welche Tiere gerade durch das Unterholz gelaufen sind, während der durchschnittliche Amerikaner dafür keinen Anhaltspunkt erkennen würde. 

 

Es ist also an der Wahrnehmungsfähigkeit des primitiven Menschen nichts verkehrt. Des weiteren kann der primitive Mensch abstrakt denken. Er kann genaue Kalender und Rechenhilfen wie in „Stonehenge“ erstellen. Seine Systeme der Totembeziehungen sind so komplex, dass sie Kulturanthropologen verblüffen. Also ist auch nichts mit der Begriffsfähigkeit des primitiven Menschen verkehrt.

 

Durch diese Beobachtungsgabe und durch dieses Denken kann der primitive Mensch erstaunliche Handwerksgegenstände erschaffen, die es ihm möglich machen, dass er unter den widrigsten Umständen überlebt. Denken Sie an die enormen Fähigkeiten die es erfordert, um von der Küste Südostasiens in Kanus auszuschwärmen und alle polynesischen und malaysischen Inseln zu besiedeln, den ganzen Weg von den Osterinseln nach Madagaskar.

 

Solche Leute müssen in hohem Grade realitätsorientiert gewesen sein, und nicht bloße Träumer.

 

Der primitive Mensch überlebt also durch das Aufbauen einer enormen Zahl von Künsten und Fähigkeiten und Handwerken, basierend auf alltäglicher Beobachtung und rationalem Denken. Wann und warum wendet er sich also an das Übernatürliche? Niemand zuvor hat diese Frage aufgegriffen, außer dem großen Anthropologen Bronislaw Malinowski (in ungefähr) 1925. Seine Schlussfolgerung:

 

In einer Seefahrergesellschaft, die von den Meeresprodukten abhängig ist, gibt es in Verbindung mit dem Sammeln von Schalentieren oder dem Fang von Fischen nie Magie, solange dies völlig zuverlässig ist. 

 

Andererseits wird jeder gefährliche, riskante und ungewisse Typ des Fischens von Ritualen umgeben. In der Jagt werden die einfachen und zuverlässigen Wege des Fangens und der Tötung von der Vernunft kontrolliert – von Wissen und Geschick – lässt man aber in Verbindung mit einem wichtigen Versorgungsgut nur ein wenig Gefahr oder Ungewissheit zu, erscheint schon Magie auf der Bildfläche.

 

Kurz, der primitive Mensch identifiziert zwei Bereiche der Aktivität. Wie Malinowski schrieb: „Küstensegeln, solange es vollkommen sicher und leicht ist, benötigt keine Magie. Überseeexpeditionen hingegen sind stets mit Zeremonien und Ritualen verbunden.“

 

Im Angesicht plötzlicher Veränderungen von Wind und Strömung, muss der Wilde zugeben, dass weder sein Wissen noch seine sorgfältigsten Anstrengungen eine Garantie für den Erfolg sind.

 

Etwas Unerklärliches tritt gewöhnlich ein und frustriert seine Erwartungen. Aber obwohl es unerklärlich ist, scheint es doch eine tiefere Bedeutung zu haben, zu handeln und sich zu verhalten, als hätte es einen Zweck. 

 

Die Reihenfolge der Ereignisse scheint eine innere logische Konsistenz zu beinhalten. Der Mensch fühlt, dass er etwas tun kann, um seinem Glück etwas nachzuhelfen und es zu fördern.

 

In solchen Stunden wendet er sich der Religion zu. Das Element des Zufalls oder Schicksals (in seinen Umständen) erfüllt ihn mit, was ein anderer Anthropologe, George C. Homans, „Primärangst“ genannt hat. Die Zuwendung zum Ritual entlastet von dieser Angst. Aber nehmen wir einmal an, dass er befürchtet, dass das Ritual nicht korrekt ausgeführt worden ist. Das führt zum Aufkommen einer sekundären Angst, und das Endergebnis ist eine Zwangsneurose, die die ganze Kultur durchdringt. Schauen Sie sich den Talmud an, der voller Anleitungen und Ausnahmen und Meinungen dieser und jener Autorität ist, wie man sich verhalten soll.

 

Zusammenfassend, ist der An-Aus-Schalter für die Zuwendung des Primitiven zur Religion Angst – spezifisch, die Angst, die von seinem eigenen Mangel an Kontrolle verursacht wird.

 

In diesem hilflosen Zustand kehrt er zu einem psychologisch infantilen Zustand zurück, in dem er glaubt, dass seine Bedürfnisse befriedigt werden, wenn er ihre Existenz einfach auf eine angemessene Weise bekannt macht.

 

Die Verantwortung für die Befriedigung dieser Bedürfnisse wird dann Personen oder Mächten übertragen, die mächtiger als er sind. „Außer Ihr werdet wie kleine Kinder, werdet Ihr nicht ins Himmelreich fahren,“ hat einmal eine bekannte Autorität gesagt. Die gleiche Autorität hat erklärt „Verschwendet keinen Gedanken an die Fragen Was sollen wir essen?, oder Was sollen wir trinken?... da euer Himmlischer Vater von euerem Bedürfnis nach all diesen Dingen weiß. Aber suchet Ihr zuerst das Reich Gottes, und euere Rechtschaffenheit, und alle diesen Dinge werden euch gegeben werden.“

 

Daher entbehrt es dem Primitiven weder an sensorischer Beobachtungsgabe noch an Vernunft, sondern an philosophischer Entwicklung.

 

Seine primitive Philosophie (seine Religion) projiziert zwei Bereiche:

a)     einer beinhaltet Elemente und Gewalten, die er kontrollieren kann,

b)     und einer beinhaltet Elemente und Gewalten, die er nicht kontrollieren kann.

 

Was in dem zweiten Bereich geschieht, geschieht aufgrund der Macht eines himmlischen oder böswilligen Bereichs, und das Ergebnis wird „Vorsehung“ genannt.

 

Später in seiner Entwicklungsgeschichte, hat der Mensch mehr und mehr Kontrolle über die Natur und sein eigenes Leben gewonnen.

 

Er lernte, dass alles in der Natur ein einheitliches System ist, und dass der Zufall keine metaphysische, sondern eine epistemologische Kategorie ist. (Zumindest haben das einige Menschen gelernt.)

 

Mit sich fortentwickelnder Kontrolle und Sicherheit des Menschen, hat sich die Religion zurückgezogen. Aber sie neigt noch dazu, jedes Mal zurückzukommen, wenn die Gewissheit und das Zutrauen eines Individuums abnehmen, so wie sie es gelegentlich tun, weil einige Dinge sich der Kontrolle des Menschen entziehen: der Tod ist das herausragendste von ihnen, aber Katastrophen sind ein anderes.

 

Der Mensch bleibt begrenzt in seinem Wissen. Der fortgeschrittenste Physiker, der welterfahrenste Statistiker oder Seismologe, kann den Augenblick nicht voraussagen, wann ein Erdbeben sein Institut vernichten wird, und ihn zu einem Querschnittsgelähmten reduziert. 

 

Situationen in denen er diesen unvermeidlichen „Schlingen und Pfeilen“ gegenübersteht, sind daher die höchste Prüfung für das Commitment des Individuums gegenüber seinem Verstand im Gegensatz zur Religion.

Übersetzung und Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Objectivist Center, die unerlaubte Vervielfältigung ist untersagt 

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